In einem vielbeachteten Interview wenige Monate nach seiner Wahl hatte Papst Franziskus gemahnt, die Kirche werde heute vor allem wegen ihrer (Sexual-)Moral wahrgenommen. Sie müsse deutlicher machen, dass ihre eigentliche Aufgabe die Verkündigung d es Evangeliums ist. Dass die Kirchen heute verstärkt über ihre moralischen und politischen Ansichten in der Öffentlichkeit präsent sind, ist freilich ein Eindruck, der auch die evangelische Kirche betrifft. Der Markt von Angebot und Nachfrage in Sachen Moral und Werte floriert derzeit. „Was sagen die Kirchen dazu?“, wird in TV-Debatten über Klimawandel, Bankenkrise und Doping im Sport gefragt, Kirchenvertreter schreiben in Zeitungen über die Strafrechtsreform in Sachen Sterbehilfe, in der Bild-Zeitung erläutert eine ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland in vollem pastoralen Ernst, dass es christlich-moralisch korrekt ist, den Beistand Gottes zu erflehen: „Ja, wir dürfen beten!“ – und zwar für den Endspiel sieg Deutschlands bei der Fußballweltmeisterschaft („Beten ist immer gut.“).
Die Kirchen haben die Aufgabe , „die Alles bestimmende Wirklichkeit Gottes“ (Rudolf Bultmann) zur Geltung zu bringen, ohne dies in einen kirchlichen Totalitätsanspruch auf die Wirklichkeit zu verdrehen. Sie sollen in der Öffentlichkeit geistesgegenwärtig, aber nicht allwissend auftreten. Es sind vor allem zwei Gefahren, denen sie da bei ausgesetzt sind . Zum einen scheinen öffentliche Auftritte der Kirchen sich häufig vorrangig an der Popularität des Themas zu orientieren und nicht daran, ob sie dafür eigentlich kompetent sind. Das ist dann das teils bemühte, teils penetrante Streben, für Themen und Ereignisse kirchliche Relevanz zu reklamieren. Das zweite Problem ist, wenn die Moral zur eigentlichen Botschaft wird, wenn moralische und politische Ansichten den Anspruch von Glaubensaussagen erhalten und so den Eindruck konfessorischer Unbedingtheit erzeugen. Diese beiden Symptome verstärken sich wechselseitig. Es kommt so zu dem Syndrom einer Kirchenmoral, welche über unsere Lebensverhältnisse zu Gericht sitzt. Das ist die „Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit“, von der der Gießener Philosoph Odo Marquard in anderen Zusammenhängen gesprochen hat. Der von ihm dabei beschriebene Mechanismus lässt sich gut auf die Situation der Kirchen übertragen. Das existentielle Sensationsdefizit der kirchlichen Religion ist heute stark reduziert. Sie ist undramatisch geworden. Undramatisch bedeutet zwar durchaus nicht, dass der Glaube gleichgültig geworden ist, aber undramatische Formen religiösen Erlebens sind eher diskret und häufig sogar diskretionsbedürftig. Das Dramatische, Sensationelle ist auffällig, laut. Das Zurück - treten des Dramatischen in der Religion wird in Kirche, Theologie und Religionssoziologie heute zumeist nur einseitig als das Verschwinden der Religion verstanden. Das hat schwerwiegende Folgen: So lange die Ansicht vorherrscht, dass der Glaube sensationell und dramatisch sein müsse, muss dies dann durch andere Mittel erzeugt werden, als sie der Kirche eigentlich zu Gebote stehen. In der Tat, der Pulsschlag der Menschen heute erhöht sich eher bei Fragen der Legitimität homosexueller Ehen, Sterbehilfe und erst recht beim Fußball. Die kirchliche Kritik der Lebensverhältnisse steigert diese Dramatik, indem sie moralisch Gericht hält. So aber tritt an die Stelle der frohen Botschaft die Skandalisierung der Lebenswirklichkeit.
Hinter dem Syndrom einer indiskreten Kirchenmoral und ihren Symptomen liegen eminente theologische Fragen. Es ist etwas tiefer in die Genese des Syndroms einzudringen, um es zu verstehen, aber auch um zu zeigen, welche Alternativen es gibt. Obwohl die protestantische und römisch-katholische Kirche dabei vor ganz ähnlichen Problemen stehen, haben sie unterschiedliche kirchliche und theologische Voraussetzungen, die nicht eingeebnet werden können und dürfen. Die Leserinnen und Leser dieser ökumenischen Kirchenzeitung mögen es dem Autor nachsehen, wenn er sich im Folgenden auf den Protestantismus konzentriert. Das gebietet schon der Respekt vor den Differenzen. Gerade diese Differenzen werden heute von den Kirchen selbst gerne eingeebnet. Dass es der evangelischen Kirche so schwer fällt, Unterschiede der ethischen Bewertung innerhalb des Christentums auszuhalten und dass sie diese Differenzen nur als Defizit und nicht als Distinktionsgewinn begreifen kann, ist selbst ein Symptom reduktiver Kirchenmoral und des mit ihr einhergehenden Identitätsverlusts.
Prof. Dr. Friedemann Voigt ist nach Tätigkeiten an der Universität Erfurt und der LMU München seit 2011 Professor für Sozialethik mit Schwerpunkt Bioethik im Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg.
Die protestantische Kirche und Theologie hat weder eine dem römischen Katholizismus vergleichbare lehramtliche Autorität, noch verfügt sie über eine dem Katholizismus vergleichbare, in den Grundlagen einheitliche Soziallehre. Der römische Katholizismus kennt kirchenrechtlich- verbindliche Äußerungen des Papstes zu Fragen des Glaubens und der Moral, welche hohe Eindeutigkeit und Autorität beanspruchen, wenn ihnen auch kein unbedingter Verpflichtungscharakter eignet. Der Protestantismus verwirft von seinen Anfängen her den Gedanken, der Glaube könne in irgendeiner Weise vom unbedingten Gehorsam gegenüber Papst und Kirche bestimmt sein. Das gilt auch für die Moral: Sie konstituiert sich ohne priesterliche oder kirchliche Vermittlung am Ort des individuellen Gewissens. Religiöse und moralische Selbständigkeit befördern sich wechselseitig. Damit gehen tiefgreifende Veränderungen der Funktion der Kirche einher: Sie ist in protestantischem Verständnis nämlich nicht mehr der heilsnotwendige Hort einer höheren Wahrheit und Moral, sondern sie ist die Instanz, welche die Selbständigkeit der Christinnen und Christen in religiöser und moralischer Hinsicht befördert. Der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“, Friedrich Schleiermacher, hat das auf die einprägsame Formel gebracht: „Jeden selbständiger zu machen im ganzen Gebiete seines Daseins ist die Tendenz der evangelischen Kirche.“
Freilich ist es dem kirchlichen Protestantismus immer auch schwer gefallen, diese religiöse und moralische Selbständigkeit tatsächlich zu akzeptieren. Der dadurch entstehende Pluralismus wurde häufig als Verlust an Identifizierbarkeit und moralischer Eindeutigkeit interpretiert. Die moralische Selbstbestimmung des Menschen und die veränderte Bedeutung der Kirche wurden dann als sündhafter Abfall des Menschen von Gott und Gesetzlosigkeit kritisiert. Die Konsequenz war eine moralische Überhöhung der Kirche. So wurde die Lehre vom prophetischen Amt der Kirche ausgebildet. Sie ist die Übertragung eines eigentlich in die dogmatische Christologie gehörenden Lehrstücks vom prophetischen Amt Jesu Christi. Die Kirche wurde zum einsamen Rufer in der moralischen Wüste der modernen Welt stilisiert. Das hatte allerdings höchst problematische Folgen. Indem die Selbstbestimmungstendenzen der Moderne diskreditiert wurden, entsprang hier eine Quelle der protestantischen Feindschaft gegen Demokratie und Menschenrechte. Die Lehre vom prophetischen Amt der Kirche findet zur Zeit der Weimarer Republik in der protestantischen Demokratiekritik linker wie rechter Prägung starken Anklang, im religiösen Sozialismus ebenso wie im konservativen Luthertum. Aus dieser Lehre vom prophetischen Amt der Kirche ist dann ein Begriff hervorgegangen, der bis heute im kirchlichen Selbstverständnis eine große Rolle spielt: Das sog. „Wächteramt“ der Kirche. Diese Bezeichnung spielte im „Kirchenkampf“ zur Zeit des Dritten Reiches eine wichtige Rolle, als der „Bekennenden Kirche“ gegenüber den „Deutschen Christen“ ein Wächteramt über die Kirche zugeschrieben wurde. Nach 1945 allerdings wurde dieses „Wächteramt“ als Anspruch der Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft interpretiert. Der säkularen Verfassung und ihren liberalen individuellen Freiheitsrechten sollten Gottes Wort und Gesetz als Garanten wahrer Moral und sozialen Zusammenhalts entgegengehalten werden.
Aber auch die an Selbständigkeit orientierten Strömungen in der protestantischen Kirche blieben in der Kirche immer aktiv. Die Orientierung an der Selbständigkeit erfordert die Verständigung darüber, wie diese Selbständigkeit gemeinschaftsverträglich und Gemeinschaft in Achtung vor der individuellen Selbständigkeit zu realisieren ist. Hier entsteht eine Reflexions- und Kommunikationskultur, die nicht zufällig im Protestantismus aufblühen konnte und ein wichtiger Faktor gesellschaftlicher Verständigung und Innovation wurde. Die protestantische Dauerprüfung des Gewissens tritt gleichsam nach außen und wird zur Kommunikationsgemeinschaft. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte dafür den Begriff der „institutionalisierten Dauerreflexion“. Er dachte vor allem an die Evangelischen Akademien, welche ein entscheidender Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Normen in der frühen Bundesrepublik wurden, weil hier theologische, politische, ökonomische, soziologische usw. Interessen und Einsichten gleichberechtigt und daher in höchst produktiver Weise aufeinandertrafen. Hier zeigt sich exemplarisch eine andere Bedeutung und ein anderes Verständnis der Kirchen als moralischer Instanz: Sie ist gerade nicht Bewertungsinstanz höherer Ordnung und Produktionsstätte eigener Werte, sondern ein Verständigungsort, welcher die religiöse Gemeinschaft als gemeinsame Basis versteht, auf der die Unterschiede im Blick auf Fragen der Moral und Politik aussprechbar und aushandelbar werden. Die Kirche versteht sich hier nicht selbst als die Lösung der Probleme, sondern sie stellt sich in den Dienst der Lösung der Probleme, sie bildet keine Gegenmoral, sondern ist Vermittlerin des gesellschaftlichen Ethos. In dieser Funktion kommt den Kirchen bis heute eine große Bedeutung als gestaltenden Kräften der Zivilgesellschaft zu.
Heute allerdings verdrängt das Syndrom der Kirchenmoral die diskursive und reflexive Förderung von Selbständigkeit zusehends. Das Sensationsbedürfnis wird durch einfache Antworten bedient. Das Erkennungszeichen der kirchlichen Tribunalisierung der Wirklichkeit ist die Forderung nach Eindeutigkeit in Fragen der Moral. Dies erzeugt einen hohen Druck auf diejenigen, die diese vermeintlich „eindeutige“ moralische Überzeugung nicht teilen. Ihnen wird gleichsam mit der moralischen Exkommunikation gedroht. Der Entlastungseffekt für die Kirchen liegt auf der Hand: An den Übeln der Welt sind die anderen Schuld, „die Gesellschaft“ oder „die Politik“. Odo Marquard nennt das „Die Kunst, es nicht gewesen zu sein“, eine Kunst, die darin besteht, „daß man sich selber erspart, das schlechte Gewissen zu ‚haben’, indem man zum schlechten Gewissen für die anderen ,wird’, also das Gewissen für die anderen ‚ist’.“ Die Folge ist der Verlust reflexiver Distanz und die Indiskretion moralische Unmittelbarkeit. Geradezu schamlos wird diese Indiskretion, wenn diese Übergriffigkeit sich selbst ermächtigt, indem sie die Selbständigkeit als „Überforderung“ der Christinnen und Christen bezeichnet. Dieser unverhohlene Aufruf zu einer neuen Autoritätskultur ist der Beleg für den Verlust an kirchlicher Selbstkontrolle, der mit der Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit einhergeht. Noch einmal in den Worten Marquards: „Wenn man das Gewissen geworden ist, braucht man es nicht mehr zu haben.“ Dass es auch anders geht, zeigen die zahlreichen Diskussionsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, die von den Kirchen – evangelisch wie römisch katholisch – in ihren Gemeinden, Dekanaten, Bistümern usw. angeboten werden. Der hier anzutreffenden Kommunikations- und Reflexionskultur geht es nicht um die Durchsetzung einer partikularen Position, sondern um einen gemeinsam zu tragenden Konsens. Auch bleibende Unterschiede werden dabei akzeptabel, wenn sie im Respekt vor der moralischen Selbstbestimmung aller Beteiligten einen gemeinsamen Grund haben. Was die Kirchenmoral daraus lernen kann? Weniger Sensation, mehr Diskretion!